Prokhid

Die jüdische Gemeinde von Ratne wurde am damaligen Sandabbaugebiet von Prokhid erschossen und verscharrt. Die Gedenkstätte wurde 2014 errichtet und im Juni 2015 eingeweiht.

Geschichte der Juden in Ratne

Die erste Erwähnung von Ratne stammt aus dem 13. Jahrhundert, während erste überlieferte Berichte über jüdische Einwohner auf das Jahr 1516 zurückgehen. Ratne wurde Mitte des 14. Jahrhunderts polnisch, bis es nach der dritten und letzten Teilung Polens 1795 an das russische Reich fiel. Nach dem Ersten Weltkrieg befand es sich auf dem Territorium der neuen polnischen Republik.

In der Zwischenkriegszeit wuchs die jüdische Bevölkerung von rund 1550 auf etwa 1800. In den späten 1930er Jahren wurden die ukrainischen Einwohner mit 950 Personen gezählt, während die polnische Bevölkerung mit rund 350 Personen beziffert werden kann.

Obgleich die Hauptsynagoge der Stadt 1915 von zurückziehenden russischen Soldaten niedergebrannt wurde, unterhielt die Gemeinde weiterhin Gebetshäuser von fünf verschiedenen, chassidischen Traditionslinien, und zwei Studienhäuser. Die meisten Ratner Juden arbeiteten als Gewerbetreibende – Ladenbesitzer, Hausierer und Exporteure agrarischer Produkte – oder als Handwerker, wie Schuster, Gerber und Schneider. Während der 1920er Jahre besetzten die Juden die überwiegende Mehrzahl der Sitze im Stadtrat. Auch der stellvertretende Bürgermeister war jüdisch. Bereits vor den 1930er Jahren wurde jedoch das polnische Wahlrecht dahingehend geändert, dass es polnische Kandidaten begünstigte. Dadurch reduzierte sich die Zahl der Juden im Stadtrat um die Hälfte, und der Posten des stellvertretenden Bürgermeisters war einem Nichtjuden vorbehalten.

In den frühen 1930er Jahren erfuhr der Zionismus starken Zulauf. Verschiedene zionistische Gruppen banden Anhänger an sich, um sie für ihre Emigration nach Palästina vorzubereiten. Die anwachsende Beliebtheit des Zionismus wurde allerdings unter den Juden skeptisch beurteilt. Bisweilen entstand eine aufgeheizte Konfrontation zwischen Zionisten und Nicht-Zionisten. Unter den Zionisten erfreute sich die Arbeiterbewegung größter Beliebtheit, wohingegen die Allgemeinen Zionisten und die orthodoxen Misrachi deutlich weniger Unterstützung fanden. Das kulturelle Leben der Stadt wurde durch Musik- und Vortragsveranstaltungen bereichert.

In Folge der deutschen und der sowjetischen Besatzung Polens im September 1939 wurde Ratne Teil der Sowjetunion. Die neuen Machthaber beschränkten die Religionsausübung, verboten den Zionismus und enteigneten Privateigentümer und Unternehmer.

Der Holocaust

Ende Juni 1941 durchquerten deutsche Soldaten Ratne. Das nationalsozialistische Besatzungssystem wurde allerdings erst im Juli errichtet. Zwischen dem Rückzug der sowjetischen Machthaber und der Ankunft der deutschen Sicherheits- und Verwaltungsorgane plünderten Einheimische aus der Gegend jüdische Häuser und Geschäfte.

Kurz nachdem die Deutschen eintrafen, erschossen sie 27 Juden und 30 sowjetische Kriegsgefangene. Durch die ukrainische Polizei agierend, führten die Deutschen eine Reihe anti-jüdischer Maßnahmen ein: Die jüdische Bevölkerung wurde zu ihrer Identifizierung zum Tragen einer Armbinde gezwungen, die später durch einen, an der Kleidung befestigten, gelben Stoffflicken ersetzt wurde. Ausgangssperren mussten eingehalten, und Wertgegenstände mitsamt religiöser Objekte ausgehändigt werden. Juden mussten Zwangsarbeit leisten und es war ihnen verboten, mit Ukrainern zu kommunizieren.

Bereits im Juli 1941 wurden die Juden aus der Umgebung nach Ratne umgesiedelt, wo im Frühjahr 1942 ein Ghetto eingerichtet wurde. Nach einem Partisanenangriff im Juni 1942 erschossen die Deutschen mehr als 110 Juden und einige Ukrainer.

Die Vernichtung der jüdischen Gemeinde

Im August rekrutierten Deutsche ukrainische Bauern aus Prokhid, um Gräber in der nahegelegenen Sandgrube auszuheben. Das Ghetto wurde von Einheiten des Gestapo-Außenpostens von Brest mit Unterstützung von deutschen Gendarmerieposten und der ukrainischen Hilfspolizei am 26. August 1942 aufgelöst.

Obgleich einige Hundert Juden flohen, bevor sie nach Prokhid gebracht werden konnten, wurden die meisten von ihnen aufgegriffen und erschossen. Darunter auch diejenigen, die sich im Ghetto zu verstecken versuchten. Die Zahl der ermordeten Juden dieser Erschießungen liegt zwischen 1300 und 1500 Personen.

Einige Dutzend qualifizierte Arbeiter wurden zunächst am Leben gelassen, um sie in Werkstätten einzusetzen. Auch sie wurden im Februar 1943 erschossen.

Rettungsversuche

Unterstützung durch die einheimische, christliche Bevölkerung fanden Juden selten. Der Bauer Michailo Chabowetz versteckte mehr als zehn Juden auf seinem Grundstück, und brachte sie später zu Partisanengruppen im Wald, die Juden schützten.

In anderen Fällen gelang es Juden unter schwierigen Bedingungen, Kontakt zu Partisanen aufzunehmen. Einigen erlaubte man, die sowjetischen Partisanen unter dem Kommandanten Wassili “Komarow” Korzh zu begleiten. Eine ukrainische Partisanengruppe, die Taras Bulba-Borowetz nahestand, gewährte einer Familie Zuflucht, solange sie für sie arbeiteten. Die Familie floh, nachdem ein Offizier sie gewarnt hatte, sie zu töten, sollten sich sowjetischen Partisanengruppen der Position der Bulba-Einheit nähern.

Nur einige Dutzend Juden aus Ratne überlebten den Krieg.

Gedenkstätte

Jahrzehnte lang fehlte jede Erinnerung an die Juden, die bei Prokhid erschossen wurden. Im Laufe der Zeit wurden die Sandhügel am Erschießungsort für Bauarbeiten abgetragen. Ein Wald überwuchs die Stätte.

1995 errichteten in Israel lebende Überlebende aus Ratne einen Gedenkstein.

Seit 2014 werden nun die Massengräber geschützt und nach den Entwürfen des Architekten Taras Savka aus Lviv zu einem Gedenk- und Informationsort umgestaltet. Die baulichen Elemente bedecken vier jüdische Massengräber.

Grau-blaue Prismen, die jeweils eine Fläche von 220 bis über 1000 Quadratmeter umfassen, schützen die Gräber der hier Ermordeten. Die Seiten dieser Prismen ragen bis zu einem Meter in die Höhe, um mit dem Gefälle des Waldbodens graduell abzunehmen.

Der unterbrochene und durchkreuzte Pfad verliert sich unerwartet im Nichts. Dessen ungeachtet stellt der Pfad eine Verbindung zu der Herkunft der hier Ruhenden her – dem Judentum. Dies wird an zentraler Stelle der Gedenkstätte durch einen Davidsstern symbolisiert, der in den Boden eingelassen ist. Dieser Davidsstern liegt einem drei Meter hohen Kubus zu Füßen, in dessen seitliche Fläche eine Menora eingraviert ist. Dem Ensemble ist eine Sitzgelegenheit zur Seite gestellt.

Infolge von Grabraub und Sandabbau wurden menschliche Überreste auf dem Gelände außerhalb der gekennzeichneten Massengräber verstreut.

In Prokhid befinden sich weitere Massengräber. Weitere nicht markierte jüdische Massengräber liegen in Ratne ebenso wie ein Massengrab mit Angehörigen der Roma.

Anreise

Man erreicht die Gedenkstätte bei Prokhid, indem man von Kovel kommend das Städtchen Ratne auf der E85 zw. M19 in Richtung Brest durchquert. Nach etwa 3 km biegt man rechts in östlicher Richtung auf einen geteerten Weg ab – links gegenüber liegt das Dorf Starostyne. Nach wenigen hundert Metern erreicht man linkerhand die im Wald liegende Gedenkstätte. Durch den Parkplatz ist sie nicht zu verfehlen.

Weitere historische Informationen erhalten Sie über den Projektpartner:

Ukrainian Center for Holocaust Studies
8 Kutuzova Street, r. 109
Kyiv, 01011

Tel.: +38 (044) 285-90-30
E-Mail: uhcenter@holocaust.kiev.ua
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