Historischer Hintergrund

Die Geschichte von Galizien und Wolhynien ist – so wie die Geschichte der gesamten Ukraine – geprägt von zahlreichen politischen Umbrüchen. Der folgende historische Überblick hat zum Ziel, die Geschichte der westlichen Ukraine bis zum Jahr 1939 zusammenzufassen.

Vorgeschichte

Die heute als ukrainische Regionen bekannten Gebiete Galizien und Wolhynien waren im 12. Jahrhundert Teil der Kiewer Rus, des ersten ostslawischen Staats. Das Gebiet, das sich später zum ukrainischen Galizien entwickeln sollte, wurde im Laufe des 14. Jahrhunderts von Polen erobert, während der überwiegende Teil Wolhyniens unter die Herrschaft Litauens fiel. Im Jahr 1569 wurde ganz Wolhynien von der polnischen Herrschaft einverleibt. Als im Jahr 1772 Preußen, Österreich und Russland Gebiete Polens annektierten, ging Galizien – sowohl die westliche als auch die östliche Hälfte – an Wien über.  Wolhynien gehörte nach der zweiten und dritten Teilung Polens ab 1790 zum Russischen Reich. Diese Situation blieb bis zum Ende des Ersten Weltkriegs unverändert.

Eine jüdische Präsenz in diesen Ländern geht auf die Zeit der Kiewer Rus zurück, so beispielsweise auf das 12. Jahrhundert im Fall von Volodymyr-Volynskyi und auf das 13. Jahrhundert im Fall von Lviv. Die Zahl der jüdischen Siedlungen wuchs in diesen Regionen zu Beginn des 16. Jahrhunderts an. Der ukrainische Aufstand gegen die polnische Vorherrschaft führte Mitte des 17. Jahrhunderts zum Tod von Tausenden Juden in Wolhynien und Ostgalizien. Dagegen ließen die Bauernaufstände im 18. und 19. Jahrhundert, die in der Zentral-Ukraine und in Regionen Wolhyniens ausbrachen, die galizischen Juden unversehrt. In ähnlicher Weise blieben die Pogrome in der russischen Ukraine während der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auf das Zarenreich beschränkt.

Im Laufe der 146-jährigen Teilung von 1772 bis 1918 entwickelte sich Ostgalizien nach dem Vorbild des österreichischen Kaiserreichs, während Wolhynien sich ähnlich wie das Russische Reich veränderte. Als benachbarte Grenzregionen rivalisierender Mächte zugehörig, blieben sowohl Ostgalizien als auch das westliche Wolhynien mit einer ländlichen Wirtschaft unterentwickelt.

Im späten 19. Jahrhundert hatten die wolynischen Juden ihr Polentem verloren, und identifizierten sich stärker mit der russischen Kultur, während die galizischen Juden eher zur polnischen Kultur tendierten. Dies war zum Teil die Folge der österreichischen Bemühungen, der polnischen Bevölkerung unter der Wiener Herrschaft mehr Autorität zu übertragen.

Jahre des Umbruchs

Als die Ukrainische Volksrepublik im Januar 1918 ihre Unabhängigkeit von Russland erklärte, wurde Wolhynien ein Teil des neuen ukrainischen Staats. Auf die österreichisch-deutsche Besatzung folgte ein Bürgerkrieg, während die Bolschewiken ihre Herrschaft in der Ukraine zu erweitern suchten. Inmitten der Feindseligkeiten peitschte eine Welle von Pogromen über das Land, die den Tod von Zehntausenden Juden zur Folge hatten. Über 200 solcher Gewalttaten gegen Juden fanden in Wolhynien zwischen 1917 und 1921 statt, etwa die Hälfte davon in den westlichen Gebieten. Wenngleich die Täter allen Konfliktparteien angehörten, so kamen die meisten aus der Armee der Ukrainischen Volksrepublik.

Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns im November 1918 spornte die Ukrainer Ostgaliziens an, ihre Unabhängigkeit als Westukrainische Volksrepublik zu erklären. Die Folge war ein Krieg zwischen der polnischen und ukrainischen Bevölkerung. Wenngleich jüdische Verantwortliche offiziell die Neutralität vorzogen, kämpften Juden dennoch in beiden Armeen. Die größere Identifikation der Galizer Juden mit der polnischen Kultur lässt annehmen, dass ihre Zahl unter den polnischen Streitkräften zahlreicher war. Allerdings wurden die meisten nachweisbaren Pogrome jener Tage in dieser Region von Polen angestiftet.

Polen siegte im polnisch-ukrainischen Krieg, wie auch im darauffolgenden polnisch-sowjetischen. Als die Kämpfe Anfang 1921 endeten, kontrollierte Polen das westliche Wolhynien und Ostgalizien. Juden konnten schließlich ihr Leben wieder aufbauen – doch dieser Wiederaufbau erfolgte vor dem Hintergrund des polnisch-ukrainischen Konflikts, der sich vorerst selbst erschöpft hatte, aber kaum behoben war.

Die 1930er

Bis 1939 bildeten die Juden Polens mit etwas mehr als drei Millionen Menschen die größte jüdische Gemeinde in Europa. Als Minderheit in Polen waren sie nach den Ukrainern die zweitgrößte Gruppe. Etwa ein Viertel der polnischen Juden lebte in von Ukrainern bewohnten Gebieten. Polen und Juden dominierten die Städte, Ukrainer den ländlichen Raum.

Juden arbeiteten vornehmlich im Handel und Handwerk, wenngleich auch eine wachsende Arbeiterklasse in den größeren Städten Wolhyniens und Galiziens vorzufinden war, wo es Industrien gab. Die meisten Fabriken und Mühlen waren in jüdischem Besitz. Jüdische Kaufleute waren von besonderer Bedeutung für den Handel mit Vieh und Agrarprodukten nach Zentralpolen und darüber hinaus. Angesichts der Bevorzugung von Polen bei der Vergabe von Arbeitsplätzen im Staatswesen, konzentrierten sich jüdische Juristen und Ärzte auf den privaten Sektor. Journalismus war ebenso eine Beschäftigungsquelle für Tausende. Mehr als 1700 jiddische Zeitschriften wurden in der Zwischenkriegszeit in Polen veröffentlicht. Darüber hinaus gab es eine hebräisch-sprachige und eine jüdische, polnisch-sprachige Presse.

Die meisten jüdischen Gemeinden lebten vergleichsweise arm, wie die Menschen in den Regionen, in denen sie existierten und waren daher auf Beihilfe aus dem Ausland angewiesen. Ihre wirtschaftliche Situation verschlimmerte sich zusehends infolge der Weltwirtschaftskrise in der ersten Hälfte der 1930er Jahre. Auch Boykotte gegen jüdische Geschäfte sowie der Ausschluss von Juden aus Berufsverbänden verschärften die Lebensbedingungen in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg.

Die Juden Polens nahmen am politischen Leben durch das nationale Parlament und in Stadträten teil, überwiegend letzteres. Die Wahlen zu Stadträten verliefen in den ersten Jahren nach der Gründung Polens weitgehend demokratisch. Nach 1926 wurde eine polnische Mehrheit für Stadträte fixiert. Dies geschah auch dort, wo Juden die absolute Mehrheit in der Bevölkerung bildeten. Diese Marginalisierung in der Politik wurde durch Gewährung einer größeren Autonomie innerhalb der jüdischen Gemeinden ausgeglichen. Die Wahlen von Gemeinderäten verliefen weitgehend demokratisch, und waren oft hart umkämpft.

Die jüdische Politik im polnischen Wolhynien und in Galizien war in etwa in die Kategorien Zionisten und Nicht-Zionisten geteilt. Auf jeder Seite der Kluft unterstützten zahlreiche Parteien linke und rechte, aber auch religiöse und weltliche Programme. Zu den Zionisten gehörten die rechtsgerichteten Revisionistischen Zionisten, die mitte-rechts einzuordnenden Allgemeinen Zionisten, die religiöse Mizrachi-Partei sowie verschiedene Arbeiterparteien. Führend unter den Nicht-Zionisten waren die orthodox-politische Bewegung Agudas Jisroel und der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund. Die Nicht-Zionisten schlossen Vertreter von Interessengruppen ein, wie Einzelhändler, Handwerker oder auch chassidische Dynastien, die mit eigenen Listen zu den Wahlen antraten. Die illegale Kommunistische Partei der Westukraine genoss Popularität in den Städten, in denen eine Arbeiterklasse existierte. Die etablierten Parteien unterhielten oftmals Bibliotheken, Theatergruppen und Jugendbewegungen, und standen oft hinter dem ein oder anderen jüdischen Schulnetzwerk, das eine Alternative zum staatlichen Bildungswesen bot.

Für die überwiegende Zeit der Zwischenkriegsjahre gehörte antijüdische Massengewalt in Polen der Vergangenheit an. Zwischen 1935 und 1937 wurden jedoch mindestens 14 Juden getötet und rund 2000 in einer Welle von Pogromen, vornehmlich in Zentralpolen, verletzt. Nur ein Vorfall ist im Lviver, polnischen Verwaltungsbezirk (Woiwodschaft), ein weiterer im polnischen Verwaltungsbezirk Stanislaviv aufgezeichnet. Das Fehlen von Massengewalt in den ukrainisch besiedelten Woiwodschaften bedeutet keine völlige Abwesenheit von Gewalt. Ein polnischer Militärbericht vom Juni 1938 informiert, dass die Organisation Ukrainischer Nationalisten – eine in Galizien aktive, rechte, autoritäre, antidemokratische Untergrundbewegung – im Jahr 1937 hinter 830 gewalttätigen Zwischenfällen gegenüber Personen oder Gegenständen in Polen stand. Während die meisten Übergriffe als antipolnisch eingestuft wurden, traf das gleiche auf 240 Angriffe als antijüdische zu. Der Großteil der letzteren wurde in Ostgalizien aufgezeichnet.

Die Situation verschlechterte sich für Juden an anderen Fronten, als der polnische Staat in den späten 1930er Jahren immer autoritärer wurde. Zusätzlich zu den Boykotten gegen jüdische Geschäfte und dem Ausschluss von Juden aus Berufsverbänden, wurden Beschränkungen für koschere Schlachtungen verhängt. Neben der Einführung eines Numerus Clausus‘ wurden „Ghetto Bänke“ für die Studenten eingerichtet, die weiterhin Universitäten und Fachhochschulen besuchten.

Juden sahen einer ungewissen Zukunft entgegen, selbst in Zeiten des Friedens. So wie sich die Situation für Juden verschlechterte, so veränderte sich auch die zwischen Polen und Deutschland.